Zwei Typen,
einer platinblond der andere grauhaarig, geischtslose Latexmasken übers Gesicht gestülpt. In flauschweisse Frottierbademäntel gehüllt fläzen sie gemeinsam auf einer Kingsize-Matratze, die ist rotbespannt, nein blau, im Halbkreis umstanden von raumhohen Spiegeln wie von Wächtern und sprechen über sich, ihren Job als Sexarbeiter in Spanien, über die Welt im Allgemeinen und ihre im Besonderen. Einer von ihnen, der Graue? scheint dabei eine winzige Kamera der Art wie Ärzte sie für Gastroskopien verwenden unter dem Frottier über seine Haut krabbeln zu lassen. Doch wer die Bewegungen der Kamera steuert wird nicht klar, der Platinblonde vielleicht? Was die Kamera in dem diffusen Halbdunkel einfängt wird auf einen Monitor, der oben im Raum über den Köpfen der beiden schwebt übertragen, während das Gespräch wie beiläufig weiterfließt, Haare wie Baumstämme, pulsierende violett geäderte Haut, eine Brustwarze, groß wie ein Berg, dunkelrote borstige Gruben, Bombentrichtern gleich, die schiere Größe, die unerhörte Nähe machen die im Grunde banalen Bilder unerträglich.
Und du denkst: Ich - die Voyerin.
Ich befinde mich im
Aue-Pavillion, D12, Kassel.
Die Künstler heissen Dias & Riedweg.
.
Nachtbriefkasten - 4. Sep, 16:32
Menschenmassen in Bermudas, mit Socken in Sandalen und tropfenden Cornettos in den Händen schieben sich aus allen Richtungen kommend über die Seepromenade. Da begenet mir der merkwürdigste Hund, den ich je gesehen habe. Schwarz weiss gezottelt und ziemlich groß. Kopf und Schwanz hängen gleichermaßen und er schiebt gelangweilt erst die rechte seiner beiden Hälften nach vorne, dann die linke.
Rechtes Vorderbein und zugleich rechtes Hinterbein. Linkes Vorderbein und zugleich linkes Hinterbein. Ich kenne kein Tier das so geht, jedenfalls nicht persönlich.
Der Hund trottet hinter einer ausladenden Frau mit Eislutscher und einem pickeligen Halbwüchsigen her. Ich kann sehen was er denkt. (Der Hund, nicht der Halbwüchsige.) Er trägt eine Sprechblase mit sich herum, wie einen Luftballon :
Ein Kind
ist kein Rind
Ein Kind
ist geschwind
wie der Wind
Es hört
was euch stört
Es denkt
was euch kränkt
Es fragt
was euch nicht behagt
Es schreit
was ihr wirklich seid
Was es weiß
macht euch heiß
Und ihr sagt es sekkiert,
wenn es Euch irritiert.
Ich nenne den Hund Erich und gehe weiter.
An diesem Tag bin ich deprimiert.

.
Nachtbriefkasten - 14. Jun, 15:33
Das Wasser, darüber der Wind: Gebürstetes Aluminium auf das einer mit lockerer Hand Ruß streut, oder jenes schwarze Puder, das Kriminologen verwenden um Fingerabdrücke festzustellen. Entfernt, weit hinten am Horizont, ein einzelner scharfer Schnitt, der in steilem Winkel durchs Aluminium sichelt: Ein Segler, der sich abends noch hinaus traut. Der Segler ist nicht allein in seinem Boot. Mit ihm ein Russe; seit Wochen versucht er mit dem ins Geschäft zu kommen. Dem Russen ist sichtlich schlecht, die Gesichtsfarbe käsig, seine Augen geweitet, und er schwitzt. Das ist die Retourkutsche für die Mengen an Fusel, die der Segler in den letzten Tagen hat trinken müssen (auf die große Nation Russland, auf die Russen im Allgemeinen und auf die Familie des Russen im Besonderen).
Der Russe verträgt das bißchen Wellengang nicht. Eine Landratte, wie erwartet.
Bald wird ihm der Borschtsch wieder hochkommen, den der Segler dem Russen hat füttern lassen am Nachmittag, und dann wird er den Russen soweit und das Geschäft in der Tasche haben.
Jeden Tag steht der rothaarige Stumpf in der Küche seines kleinen Restaurants und kocht Borschtsch. Er ist ein waschechter Schiffskoch aus Kiel und sieht auch so aus, seine Frau Olga freilich ist Russin, mit Heimweh. Deswegen und weil er seine Frau liebt, bereitet der rothaarige Stumpf den besten Borschtsch außerhalb Russlands zu.
Sie haben sich alle aufrichtig gefreut. Der Stumpf für Olga, weil die endlich wieder einmal reden konnte, wie ihr der Schnabel gewachsen war, Olga über den Russen und der Russe über den Borschtsch.
Das wäre so, wie wenn ich mich über Wienerschnitzel in Moskau freuen würde, wundert sich der Segler, während er dem Russen beim Kotzen zusieht.
..
Nachtbriefkasten - 11. Jun, 18:35
Kotzender Rabe hockt am Vordach,
speit sich die schwarze Seele aus dem Leib.
Sein gefiederter Kumpan tänzelt um ihn herum und krakeelt.
Sieht aus, als würde er schimpfen: Hey Alter,
reiss Dich zusammen, was sollen denn die Bräute von uns denken.
Sie verdrehen beide die Köpfe.
Sind doch keine da, meint der andere.
Dann fliegen sie weg.
Nachtbriefkasten - 2. Jun, 16:28
Ein abgerissener Typ mit nackten Füßen betrat den Laden. Dass er barfuß war, sah Wipflinger gleich. Es war sein Job das zu sehen. Ausserdem war es eine Art Gewohnheit, er schaute immer allen gleich auf die Schuhe, ohne dass die das mitbekamen, man könnte sogar Hobby dazu sagen, aber das Wort behagte Wipflinger nicht. Hobby klang, als müsste man damit die Zeit totschlagen, wenig ernsthaft. Auch wenn das Totschlagen der Zeit an sich etwas sehr Ernstes war, eine ernstzunehmende Dummheit nämlich, fand Wipflinger.
Im Lauf der vergangenen zehn, zwanzig Jahre hatte Wipflinger sich eine regelrechte Schuhtypologie zurechtgelegt, die auf genauer Beobachtung beruhte. Aus der Beschaffenheit von Schuhen ließ sich auf deren Träger schließen, soviel stand fest. Wipflinger irrte sich dabei so gut wie nie.
Um sagen zu können, wie es sich umgekehrt verhielt, ob man von Barfüßigen auf deren Schuhprioritäten schließen konnte, dazu fehlten ihm die Erfahrungswerte.
„Neue Kategorie: Bloßfüßige“, notierte sich Wipflinger jetzt in Gedanken,
„Anmerkung: noch nie da gewesen..“
Der Bloßfüßige stand ein wenig ratlos herum, als würde er Anlauf nehmen wollen, aber nicht wissen, vor welchem Hindernis, oder aber nicht den Platz oder die nötige Entschlossenheit dazu finden.
Fragen wie „Kann ich Ihnen helfen?“ oder „Was darfs denn sein?“ sparte sich Wipflinger schon lange, in seinen Augen waren das Anfängerfehler. Was würde es schon s e i n d ü r f e n, Schuhe vielleicht? Seine Kunden waren ja nicht blöd.
„Heute würde ich gerne Schuhe kaufen.“ näselte der Barfüßige. Von denen, die es bisher in meinen Laden geschneit hat, nehm ich Dir das am meisten ab, dachte Wipflinger. „Stiefeletten hätte ich nicht ungern!“ Der Barfüßige bediente sich einer Sprache, wie aus besseren Tagen. Alles kann einem verloren gehen mit der Zeit, Talent, Hoffnung, Ansehen, aber von der Sprache bleibt einem immer ein bißchen was aus den besseren Tagen zurück, solange das Hirn nicht streikt. Penner, die wie Grafen sprechen, mit Absicht oder ohne es zu merken, Wipflinger fielen solche Dinge auf.
Das auf den unterschiedlich hohen Türmen aus Schuhschachteln wie auf einer Miniaturskyline präsentierte Sortiment schien den Barfüßigen indessen kaum zu interessieren, er betrachtete nur abwechselnd seine schwarzen Zehen und Wipflinger. Dann kaufte er das erste Paar, das dieser ihm zum Probieren hingestellt hatte. Nachdem er einige Schritte vor dem die ganze südliche Wand des Ladens einnehmenden Spiegel auf und ab spaziert, vor und zurück gewippt war und sich ein paar mal um sich selbst gedreht hatte, zog er die Stiefeletten - cognacfarben, helle Kontrastnähte, verdeckte Reissverschlüsse, sehr modisch, teuer - und die schwarzen Probiersocken wieder aus, legte das Geld abgezählt auf den Tresen, zwei große Scheine und ein paar Münzen, die er aus seinen Hosentaschen zusammengeklaubte, zog danach den einen Schuh über die linke, den anderen über die rechte Hand und verschwand armeschlenkernd aus dem Laden.Vergnügt und genauo barfuß wie er gekommen war.
„Auf Wiedersehen!“, rief Wipflinger dem Bloßfüßigen durch die sich schließende Tür hinterher. Der hob mit lässiger Geste eine Hand, ohne noch einmal das Gesicht zu wenden und ging davon; wie der Scherenschnitt eines seltsamen Vogels sah er aus, in dem Gegenlicht auf der Strasse.
„Name: Columbo
Anmerkung: Handschuhträger, kommt sicher wieder...“,
notierte Wipflinger im Geist.
..
Nachtbriefkasten - 1. Jun, 12:27